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Historischer Roman

Romanprojekt, Zeitgenössische Kunst

Leseprobe (Seite 03 - 18)

Die Prophezeiung

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Der Tag wird kommen, da ein Junge von der großen Jagd mit leeren Händen heimkeht.

Ein Tag, der sich in tiefer Nacht verliert.

Der Weiseste selbst steigt herab.

Vater aller Götter!

Allvater!

Odin!

Vater des Gottes Tiwaz, der die Wege der Stämme bis zu jener Nacht lenkt.

Odin jagt auf hohem Ross dahin und treibt die Nacht zu neuem Tag.

Die Zeit des Kampfes steht bevor.

Odin reicht seinen göttlichen Sohn dem Knaben, der ohne Beute heimkehren muss. Zu gedeihen beginnt der Knabe und zu denken, er wird Runen finden, stark und mächtig. Geschaffen von Göttern, geritzt vom höchsten Herrscher:

Odin!

Vierundzwanzig Winter - vierundzwanzig Runen einer Bestimmung.

Bestimmung und Schicksal eines beutelosen Jünglings, den Odin weise wählt. 

Odin wird ein Volk entsenden, aus dem Land in dem die Sonne niemals untergeht und dennoch die Dunkelheit herrscht. Ein Volk stark und mächtig, wie Jörmungandr, die Schlange, welche die Welt umspannt. Ein Volk seinem Sohn zu dienen.

Die Zeit des Kampfes ist gekommen, der Sieg noch ungewiss.

Ein Auge gab Odin dem weisen Mimir, für einen Schluck aus dem Brunnen der Quelle, die unter dem Weltenbaum entspringt. Odin erwarb Weisheit, erwarb Wissen, erwarb die Kraft des Sehens, doch weiß niemand um der Nornen Schicksalsfäden ...

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Elsass am Rhein, 124 v.u.Z.

Die wilde Jagd

 

Alwin stapfte durch den Schnee, der knirschend unter seinen Füßen nachgab. Es waren die letzten Schritte des beschwerlichen Aufstiegs. Sein Gesicht brannte unter der tief gezogenen Kapuze und sein Atem dampfte in die eisige Nacht. 

Er sah bereits den gewaltigen Götterpfahl am Mittelpunkt der Hochebene in den Himmel ragen.

Der riesige Eichenmast stand dunkel und kalt im Licht des Vollmondes und nichts deutete mehr darauf hin, dass er von hier aus bei Sonnenaufgang mit einer Horde Gleichaltriger Jungen aufgebrochen war.

Einzig ein Jagderfolg, und sei er auch noch so klein, hätte ihn an diesem Tag zu einem neuen Krieger des Triboker Volkes gemacht.

Bläulich schimmerten Alwins leere Hände unter dem dicken Wollmantel hervor. 

Voller Freude war er im Morgengrauen zur großen Jagd aufgebrochen. Zwölf Winter hatte er auf diesen Tag warten müssen. Er war tief in die Wälder gelaufen und hielt seine Steinschleuder stets zum Abschuss bereit. Er war darin geübt, die Schleuder in Sekunden so zu schwingen, dass das Geschoss noch in dreißig Metern Entfernung einen Apfel zerschmetterte. Doch jedes Mal wenn er ansetzte, sie in die Luft zu heben, war es, als halte eine unsichtbare Macht seinen Arm fest. Er hatte Anfangs darüber gelacht, seinen Verstand verrückt gescholten und sich mit aller Kraft gegen den Widerstand gewehrt, doch je tiefer die Sonne sank, desto mehr verließ ihn seine Kraft. Das Jagdfieber war einem verzweifelten Kampf gegen einen Gegner gewichen, von dem Alwin nicht sagen konnte, wer oder was es war. Vollkommen erschöpft hatte er schließlich aufgeben müssen.

Alwins Knie zitterten, und er wankte einen weiteren Schritt auf den Pfahl zu. Die Schneedecke breitete sich unheilvoll vor ihm aus. Er sehnte sich danach der Schwere seiner Beine nachgeben zu können, zusammenzusacken und seine Augen endlich zu schließen. Stattdessen kämpfte er sich Schritt um Schritt dem Götterpfahl näher. Wohin sollte er auch sonst gehen?

Vereiste Zweige, die vereinzelt aus dem Schnee hervorragten, funkelten ihn erbarmungslos an. Wie Speerspitzen zeigten sie auf ihn, den einzigen Jungen des Triboker Volkes, der mit leeren Händen von der Jagd zurückkehrte.

Aus weiter Ferne drang dumpfer Trommelschlag in sein Ohr, und die warmen Lichter des Hofes am Horizont verschwammen vor seinen tränenden Augen.

Der Schnee schloss sich fester um seine Füße. 

Er musste zurückkehren, oder er würde am Fuße des Götterpfahls erfrieren. Doch wenn er die Tore des Hofes mit leeren Händen passiert, wäre dies die Nacht der Prophezeiung.

Alwin wollte sich nicht ausmalen, wie die Triboker darauf reagieren würden. Er war im Vergleich zu den anderen Jungen zwar von größerem Wuchs, doch sein Körper war noch immer schmächtig wie der eines Kindes. Oft versank Alwin in Gedanken, konnte ihnen tagelang nachhängen, ohne ein Wort zu verlieren. Ob das der Grund war, warum die anderen Jungen ihn mieden? Er konnte es nicht sagen. Er wusste nur, dass nichts an ihm auf etwas Besonderes hindeutete oder ihn zu etwas Außergewöhnlichem machte. Viel wahrscheinlicher war es, dass ihm die Triboker unterstellen würden, dass die unsichtbaren Kraft, die seinen Arm festhielt, frei erfunden war und er den Tag in den Wäldern absichtlich verträumt hatte.

Der dunkle Götterpfahl baute sich vor ihm auf, als wolle er ihm den Weg versperren. Alwin starrte mutlos an dem toten Holz empor. Scharf biss ihm der Wind ins Gesicht. Eis hatte sich in die geritzten Kerben des Pfahls gelegt und funkelte abweisend im Mondlicht. Er schmeckte noch das Blut, das aus den Rissen seiner ausgetrockneten Lippen quoll, als endlich seine Knie nachgaben und er erleichtert in den Schnee sackte.

Offensichtlich war er nur ein Junge, der überhaupt nicht von der Jagd zurückkehrte.

Er hätte nicht mehr aufgeschaut, seinen Blick nicht von seinem Totenbett genommen, hätte nicht ein Windstoß den Schnee vom Boden aufgewühlt. Die kleinen Eiskristalle stachen ihm wie Nadeln ins Gesicht und zwangen ihn, den Kopf zu heben. Sein Blick schweifte in die Ferne zur Siedlung, als er plötzlich einen dunklen Schatten nahen sah.

Jemand kam den Hügel hinauf.

Dem fülligen Leib nach zu urteilen, konnte es nur Guntmar sein. Was wollte ausgerechnet der Stammesfürst hier? Mitten in der Nacht?

Und er war nicht allein.

Das Licht des Vollmondes zeichnete unverkennbar die Silhouette von Alwins Mutter Freyja, die wenige Schritte hinter Guntmar durch den Schnee stapfte: die wild tanzenden Locken, ihre weiblichen Rundungen und ihre unverkennbare Größe, die selbst unter den Männern nur wenige erreichten. Als Priesterin des Stammes genoss sie nicht nur deshalb höchstes Ansehen.

Alwins Herz begann zu pumpen, das Blut kroch heiß durch seine Glieder. Zum Weglaufen war es zu spät. Das Unterholz am Ende der Hochebene war viel zu weit entfernt und die Spuren seiner Flucht würden ihn mit Sicherheit verraten. Reglos spähte er zu den Näherkommenden hinüber.

„Ich spüre es! Die Prophezeiung erfüllt sich.“ 

Freyjas Stimme klang wie der heulende Wind in einer Felsenschlucht, der seine Opfer in die Tiefe zieht.

Selbst die stärksten Krieger zeigten Furcht, wenn sie von der Prophezeiung sprach. 

Jeden Augenblick mussten sie Alwin entdecken. Doch dann schüttelte ein plötzlicher Hustenanfall den schweren Leib Guntmars, so dass er abrupt stehen blieb, sich vornüberbeugte und in den Schnee zu sinken drohte. Freyja eilte zu ihm. Alwin glaubte, sie wolle ihn stützen, doch stattdessen schüttelte sie Guntmar und schrie: „Gib ihn her!“ Sie zerrte an seinem Mantel, als etwas zu Boden fiel. Freyja griff danach.

Alwin konnte kaum glauben, was da schlaff in ihren Händen baumelte: der winzige Körper eines Neugeborenen. Es konnte nur das Kind Guntmars und seiner Fürstin sein. Warum hatte Freyja ihm den Säugling entrissen? Sie schüttelte den winzigen Körper und hob ihn zum Himmel empor. Er gab kein Lebenszeichen von sich und die blass violette Farbe seiner Haut konnte nur bedeuten, dass er tot war. 

Entsetzt von diesem Anblick presste Alwin die Luft aus seinen Lungen. In einem lauten Donnerschlag, der die Hochebene erzittern ließ, ging sein Schrei unter.

Der Boden unter seinen Füßen begann zu schwanken, als stünde er auf dem Rücken einer wütenden Schlange, die nach langem Schlaf geweckt wird. Das Zucken eines Blitzes ließ den Götterpfahl hell aufleuchten. Erschrocken klammerte sich Alwin an den knochigen Mast.

„Odin durchbricht den Himmel!“, schrie Freyja in den aufkommenden Sturm. 

Blitze zuckten durch die Finsternis und erhellten gespenstische Bilder: ein wilder Hengst, der achtbeinig über den Himmel jagte; ein bärtiges Gesicht; ein Auge, dass ihn durchdringend anstarrte; Schneemassen, die wilde Wellen schlugen; Freyja die keuchend nach Luft schnappte, sich gegen die Macht des schwankenden Erdbodens stemmte; der tote Säugling, der ihren Händen entglitt. 

Wieder zuckte ein Blitz auf, und in seinem gleißenden Licht fiel Freyjas Blick auf den zusammengekauerten Jüngling am Götterpfahl. Alwin starrte in die eisblauen Augen seiner Mutter, als könne er sie damit festhalten.

Er glaubte sie lächeln zu sehen, doch dann veloren sich abrupt ihre Blicke und sie wurde vom Sog der aufgewühlten Schneemassen erfasst. Alwin wollte seine Hände vom Götterpfahl lösen, wollte zu ihr, doch unmittelbar vor seinen Augen blitzte ein riesiger Huf auf, und bevor er reagieren konnte, wich das gespenstische Treiben einer Finsternis, die alles um ihn herum verschlang.

 

 

Langsam kehrte Alwins Bewusstsein zurück. Der Sturm hatte sich gelegt. Nur ein Grollen in der Ferne erinnerte noch an das Tosen der Naturgewalten. 

Alwin brauchte einen Moment, bis das Leben in seine gefühllosen Glieder zurück kehrte und er endlich vom Götterpfahl ablassen konnte. Mit steifen Beinen taumelte er zu der Stelle, an der seine Mutter von den Schneemassen erfasst worden war. Er wühlte sich keuchend durch den tiefen Schnee, tauchte hinein, streifte mit tauben Armen hindurch, bis er endlich ihren Körper ertastete, scharrte hastig den Schnee beiseite und legte sie frei, umschlang sie und presste sie an sich, schaukelte wimmernd vor und zurück, als wiege er einen Säugling. Dabei suchte er fieberhaft nach einem Lebenszeichen. Doch Freyja zeigte keine Regung.

In stummem Flehen richtete er seine blassgrünen Augen auf den Eichenpfahl, der teilnahmslos im Mondlicht schimmerte. Tränen liefen ihm über die Wangen, und die vielen kleinen Wunden, die der Sturm in seine Haut geschnitten hatte, brannten schmerzhaft. Noch immer verströmte Freyjas kalte Haut den vertrauten Duft nach getrockneten Kräutern. Da bemerkte Alwin das kleine Bündel in ihren Armen.

Zögernd streckte er die Hand danach aus und schob die Stofflagen auseinander. Zum Vorschein kam ein nackter Säugling. Ein Junge. Gleichmäßig hob und senkte sich seine Brust. Die weiße Haut war mit Blut verschmiert, und aus dem Bäuchlein hing eine runzelige Nabelschnur. Helle Haarsträhnen klebten über dem faltigen Gesicht des kleinen Wesens. Es schlief friedlich im Schutz der weichen Wolle, und nichts von dem, was ringsumher geschah, schien diesen Schlaf zu stören. 

„Alwin!“

Erschrocken fuhr er zusammen und schaute auf. Bredi stapfte auf ihn zu. Wie Alwin zählte Bredi zwölf Jahre und war am Morgen zur Jagd aufgebrochen. Sicher hatte er einen Wolf erlegt, womöglich gar einen stattlichen Eber. Sein Körper war muskelbepackt, wie der eines erwachsenen Mannes. Auch wenn er Alwins Größe nicht erreichte, die meisten Jungen überragte er mindestens um Haupteslänge.

Bredis Faust umfasste den ledernen Griff des Dolches, der an seinem Gürtel hing. Mit der Linken führte er ein Pferd am Zügel. 

Erst jetzt entdeckte Alwin auch Guntmar, der wenige Meter vom Pfahl entfernt im Schnee kauerte. Hatte er gesehen, was Alwin gesehen hatte? Guntmars weit aufgerissenen Augen starrten ihn aus dunklen Höhlen ausdruckslos und undurchschaubar an. Das Licht des Mondes ließ die tiefen Narben in seinem Gesicht noch bedrohlicher wirken. 

„Alle warten auf dich.“, rief Bredi aufgebracht. „Einige glauben schon es sei die Nacht der Prophezeiung. Stattdessen versteckst du dich hier vor dem Sturm und klammerst dich an deiner Mutter fest. Du bringst uns alle in Gefahr.“

Etwas in Bredis Stimme klang ungewöhnlich, geradezu unsicher, obwohl er seine Augen zu wütenden Schlitzen zusammenzog.

Mit heiserem Stöhnen machte Guntmar auf sich aufmerksam. Bredi zuckte bei seinem Anblick zusammen. Der Stammesfürst hatte sichtlich Mühe seinen schweren Körper aus dem Schnee zu heben. Bredi eilte ihm zu Hilfe.

„Mein Fürst, ich habe wie gewünscht Euer Pferd dabei. Ich wäre früher hier gewesen, doch der Sturm machte den Anstieg unmöglich.“

Obwohl Bredi ein Kind der Markomannen war, die wenige Kilometer östlich siedelten, und erst vor fünf Wintern als Gefangener an den Hof gekommen war, hatte er rätselhafterweise ein besonders vertrautes Verhältnis zu Guntmar. Reglos beobachtete Alwin, wie Bredi den kraftlosen Mann mühsam aufs Pferd stemmte.

Der plötzliche Schrei des Säuglings hallte durch die verblassende Nacht. Ohne nachzudenken griff Alwin nach dem Stoffbündel in Freyjas Armen. 

Bredi ließ erschrocken von Guntmar ab, der sich nur mühsam auf dem Rücken des Pferdes halten konnte. Mit einem Satz sprang er zu Alwin und riss ihm den Säugling aus der Hand. Alwin sah ein Zittern an Bredis Augenlid, eine Schwäche, die er oft bei ihm beobachtete.

„Schaut, mein Fürst, Euer Sohn lebt!“

Ein wenig zu vergnügt, wie Alwin fand, übergab Bredi das kleine Bündel dem Stammesfürsten. 

Guntmars Gesicht zeigte keine Regung. Sein Blick ruhte auf Alwin, während er mechanisch den Säugling an sich nahm. Bredi führte das Pferd näher und blieb direkt vor ihm stehen.

„Alwin! Hoch mit dir.“

Bredis Befehlston machte Alwin wütend, doch er zwang sich unter dem stechenden Blick Guntmars auf die Beine. 

„Du hast Glück, dass Guntmars Sohn noch lebt. Dass deine Mutter ihn mitnahm, als sie dich suchen ging ...“

Bredi schüttelte missbilligend den Kopf. Wieder sah Alwin das verräterische Zittern seines Augenliedes.

„Dummes Weib. Steh auf!“, befahl Bredi.

Schon hatte er Freyjas Hand umfasst, als er bemerkte, dass sie keine Regung zeigte. Ihr Körper hing schlaff und schwer in seinen Armen.

„Das ist dann wohl deine Schuld“, wandte er sich keuchend an Alwin.

Der Anblick von Freyjas Beinen, die widerstandslos eine Schneise durch den Schnee zogen, während er sie zu Guntmar schleifte, schnitt sich schmerzhaft durch Alwins Brust. Rasch sprang er Bredi zu Hilfe und gemeinsam hoben sie den leblosen Körper zu Guntmar aufs Pferd hinauf. 

Den Weg zur Siedlung legten sie schweigend zurück. Erst als die Morgendämmerung fahl durch die Bäume drang, passierten sie die Tore zum Hof. 

Ein Nebelschleier hatte sich über die Siedlung gelegt und schützte sie vor neugierigen Blicken. Lediglich das Klappern von Hufen und einige Männerstimmen, aus Guntmars Halle zeugten davon, dass hier Leben herrschte.

Vor Alwins Behausung blieb Bredi stehen.

„Geht in die Hütte und wartet dort. Ich werde berichten, dass Alwin zurückgekehrt ist und das der Sturm ihm seine Beute und seine Mutter genommen hat.“

Guntmar nickte und glitt mit dem Säugling im Arm vorsichtig vom Pferd.

Dass Bredi die Führung übernahm, schien ihn nicht zu stören. Der Schrecken der Nacht hatte sich tief in sein Gesicht gegraben.

Bredi wandte sich ab und zog das Pferd mit sich. Freyjas lebloser Körper hing schlaff vom Rücken des Tieres herab und stieß mit jedem Schritt gegen die Schultern.

Erst als Guntmar ungeduldig schnaufte, löste sich Alwin widerwillig von dem Anblick seiner toten Mutter und öffnete die Tür. Das Holz ächzte leise. Guntmar schob sich grob an ihm vorbei.

Während Alwin mit starren Fingern den Riegel hinter sich zuschob, saugte er den vertrauten Duft der Kräuter ein, die seine Mutter am Dachpfosten zum Trocknen aufgehängt hatte. Wacholderblüten, Lorbeeren, Lavendel, Margeriten, Eibisch, Estragon. Er stellte sich vor, wie seine Mutter gleich käme, ihn anlächelte und tröstend in die Arme schlösse. Er würde sich an ihre Brust legen, die Augen schließen und Vergessen, was unabänderliche Gewissheit war: Er war ohne Beute von der Jagd zurückgekehrt. Ein Teil der Prophezeiung hatte sich erfüllt.

Das Feuer in der Mitte der Behausung war bereits erloschen. Alwins Augen folgten dem letzten Schimmern der Glut, die sich zu feinen Linien wand und seltsame Zeichen formte. 

Erschöpft sank er auf die Pritsche. Die beiden Felldecken lagen noch so ordentlich darauf, wie er sie am Morgen verlassen hatte.

Mit einem dumpfen Ruck ließ Guntmar sich neben ihn fallen. Das Kind, noch immer in Lagen von Wolle gewickelt, ruhte still in seinem Arm.

Der eisige Wind, der leise pfeifend über das gerippte Strohdach zog, hatte etwas Einschläferndes. 

Alwin band die Riemen von seinen Knöcheln los, die das dicke Leder seiner Schuhe hinter der Ferse und über den Zehen zusammenhielten. Langsam streifte er den Wollmantel von seinen schmalen Schultern und legte frisches Holz auf die Glut. Das Zittern ließ nach, und ganz allmählich schlug sein Herz wieder langsam und regelmäßig.

„Kein Wort wirst du über das verlieren, was wir gesehen haben.“ Guntmars Stimme klang so bedrohlich, dass Alwin einen Schauer im Nacken verspürte. 

„Hast du verstanden? Kein Wort wirst du jemals darüber verlieren.“

Obwohl in Alwin eine Unmenge von Fragen brannten, nickte er gehorsam und schwieg.

Er war nicht sicher, wozu Guntmar bereit war, um das Geschehene geheim zu halten. 

Aus dem Augenwinkel musterte er ihn. Er konnte nicht sagen, ob es Tränen oder Reste des Schneesturmes waren, die seine vernarbten Wangen feucht schimmern ließen. Doch Guntmar liebte Freyja, auch wenn Guntmars Art zu lieben eher bedeutete, den anderen nicht zu hassen. Oft war er sturztrunken in ihre karge Hütte gestolpert, voller Verlangen nach ihr. Verwehrte sie ihm das Lager, musste Alwin ihn hinaus zur Tür begleiten und dafür einige Prügel einstecken. Die harten Schläge ließen ihn kalt. Es freute ihn, dass er dem Liebesspiel nicht lauschen musste und er den Stammesfürsten der Triboker aus der Hütte vertrieb.

Wie würden wohl die zahlreichen Krieger des Stammes auf Freyjas Tod reagieren? Auch sie waren häufig Gäste der Nacht und teilten mit ihr das Lager. Hat Freyja gewusst, was passieren würde? Alwin versuchte fieberhaft, sich an die letzten Tage zu erinnern.

Er ärgerte sich, dass er sie am Vorabend keines Blickes gewürdigt hatte, als er ihr mal wieder Schüsseln mit heißem Wasser bringen musste. Er hatte seine Augen einfach nicht von der jungen Frau lassen können, die keuchend und mit gespreizten Schenkeln auf der blutverschmierten Pritsche gelegen hatte. Die kehligen Schreie von Guntmars Weib waren seit Tagen wie das raue Krächzen von Raben durch die Siedlung gezogen und hatten ihn ahnen lassen, dass etwas nicht stimmte. Doch eine Totgeburt? Liebevoll hatte Freyja sich um die Fürstin gekümmert. Für einen Säugling von dem sie wusste, dass kein Leben auf ihn wartet, wäre ihre Mühe vergebens gewesen.

Er dachte an den Morgen, an dem er zur großen Jagd aufgebrochen war und ihre letzten Worte. „Deine Stärke liegt im Verborgenen, Alwin. Vertraue den Zeichen der Götter. Sie werden dich lenken.“ Er gab sich der Wärme dieser Erinnerung hin, die seinen Körper sanft umschloss, und erlag der Müdigkeit, die sich schwer auf seine Glieder legte. 

Aus dem Augenwinkeln sah er noch Bredis Schatten durch die Ritzen der Fensterläden und hörte, ehe der Schlaf ihn tröstend empfing, Bredis geflüsterten Worte, dass alles vorbereitet sei und Guntmar seinem Volk bei Sonnenuntergang die Nachrichten überbringen könne. 

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Leseprobe (Seite 225 - 232)

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114 v.u.Z.; Schlesien an der Oder

Die Schlacht der Boier

 

Das Rauschen des Flusses war ohrenbetäubend. Alwin konnte kaum einen klaren Gedanken fassen. Die Wut darüber, dass der alte Fährmann sie überlistet hatte, trieb ihm das Blut in den Kopf. Keuchend vor Zorn presste er die Zähne aufeinander. Beinah war er bereit in den reißenden Strom zu springen, um dem Fährmann zu folgen, doch die Wassermassen wären sein sicherer Tod.

Fassungslos schaute er zu, wie das Floss und mit ihm das Einzige was ihm lieb geworden war, vom Horizont verschlungen wurde. 

Das Licht der untergehenden Sonne zog tiefrote Fäden am Himmel entlang. 

„Wenn Blut den Himmel tränkt, wird es im Kampf in Strömen fließen“. Er erinnerte sich noch deutlich daran, wie seine Mutter ihm diese Worte gesagt hatte. 

Alwin schloss seine Augen und sog die Luft ein. Tatsächlich konnte er den Geruch von Blut in der trockenen Sommerhitze ausmachen. 

Aufgeregt schlug sein Herz gegen die Rippen.

„Sigurd!“ brüllte er gegen die rauschenden Wellen an.

Sigurd stand noch immer reglos am Ufer und starrte auf den Fluss. 

„Sigurd!“

Schnell sprang Alwin auf zu ihn und packte ihn an den Schultern.

„Eine Schlacht!“ schrie er so laut er konnte, gegen die Wassermassen an. Sigurd schaute ihm verwundert in die Augen. 

„Sie sind hier!“ Aufgeregt riß Alwin ihn mit sich die Uferböschung hinauf.

Er konnte nicht sagen, warum er die Richtung wählte, in die sie gingen, doch ohne zu zögern lief er einen Hügel hinauf, der blutigen Sonne entgegen. Sigurd folgte ihm dicht auf den Fersen und Alwin spürte seine Ungeduld heiß im Nacken. 

Das rote Abendlicht flimmerte unruhig durch die Blätter der Baumkronen. 

Die Hitze des Sommers, die den trockenen Waldboden seit Tagen aufgewärmt hatte, trieb Alwin den Schweiß auf die Stirn. 

Es war nur ein kurzer Zweifel, der nicht länger als ein Herzschlag aufblitzte: Was wenn sie kämpfen müssten? 

Konnte er einen Krieger im Kampf bezwingen? Die Erinnerung an seine unzähligen Jagdversuche biß sich schmerzhaft in sein Bewusstsein.

Zornig beschleunigte er die Schritte. 

Das Knacken der Zweige, die unter seinen Füssen nachgaben, durchbrach die drückende Stille, wie die Schatten der Vergangenheit seine Gedanken. Doch da war noch etwas anderes. Mit jedem Schritt, den sie der Hügelspitze näher kamen, drang es tiefer in sein Bewusstsein. Es schien ihm, als höre er aus den Tiefen der Erde den Kampfschrei tausender Krieger. 

Der Boden vibierte unter seinen Füssen.

Er wischte sich gerade den Schweiß von der Stirn, der in seinen Augen brannte, als ihn plötzlich Sigurd mit einem Ruck beiseite stieß und die letzten Meter hinauf rannte. Mit einem Schlag waren die Gedanken in Alwins Kopf verflogen. Schnell schloss er zu Sigurd auf und wäre fast mit ihm zusammengestoßen, als dieser unverhofft stehen blieb. 

Er hörte nur noch das tosende Dröhnen wilder Krieger und schaute gebannt in die Tiefe.

Vor seinen Augen erstreckte sich ein riesiges Schlachtfeld. 

Das Licht der untergehenden Sonne brach sich auf geschliffenen Schwertern, tanzte wild umher und tauchte das Tal in ein Meer glimmender Irrlichter. 

Die Schreie der todeswütigen Kämpfer, jagte durch die trockene Abendluft. Angreifer und Verteidiger waren in dem Getümmel kaum auszumachen. 

Gerade noch rechtzeitig bemerkte Alwin das Zucken in Sigurds Schultern.

„Für wen willst du denn kämpfen, du Narr!“, stieß er eilig hervor, bevor Sigurd trunken vor Kampfeslust loststürmen konnte.

Zu Alwins Erleichterung blieb Sigurd unentschlossen stehen.

„Wir müssen näher ran“, sprach Alwin mit ruhiger Stimme. 

Das Dickicht am Fuss des Hügels bot genug Schutz, um sicher zu gehen, dass sie nicht sofort entdeckt würden. Als hätte Sigurd Alwins Gedanken gelesen, machte er sich bereits auf den Weg.

„Ich gehe voran“, fauchte Alwin ihn wütend an. Er sah den funkelnden Widerwillen in Sigurds Augen blitzen, doch entschieden zog er an ihm vorbei. 

Rasch bahnte er sich den steilen Weg nach unten, doch der trockene Waldboden bot wenig Halt.

Immer wieder rutschte er meterweit hinunter. 

Erst, als er den Fuss des Hügels fast erreicht hatte, konnte er den Schritt verlangsamen. In geduckter Haltung schlich er näher und näher, die Büsche entlang, dicht gefolgt von Sigurd. 

Wenige Meter entfernt, verteidigte sich gerade ein Krieger gegen eine Welle von Angreifern. 

Dunkelrot färbte das umherspritzende Blut den Lederpanzer, der den Oberkörper des gewaltigen Mannes vor seinen Gegnern schützte. Seine weit aufgerissen Augen blitzten kampfgierig unter dem Helmrand hervor. Er stolperte nicht über die Leichen die zu seinen Füssen lagen, doch der von Blut getränkte Boden war matschig und er drohte auszurutschen. Geschickt wich er Richtung Hügel aus, stach hitzig wieder und wieder zu. 

Alwin stockte der Atem und er duckte sich tiefer. Seine Beine zitterten und er wagte es nicht sich zu bewegen. Gebannt schaute er dem Krieger zu, dessen Schwert hungrig jeden heranstürmenden Gegner durchbohrte. Dem goldenen Siegelring nach zu urteilen, der dabei unübersehbar an seiner Schwerthand funkelte, musste es sich um einen mächtigen Fürsten handeln.

Immer wieder rückten neue Angreifer nach und mit dem Mut der Verzweiflung setzte er sich unbarmherzig zur Wehr und drehte sich in wildem Kampf um die eigene Achse. Fauchend wirbelte sein Schwert durch die Luft. 

Alwin konnte bereits den Luftzug auf seinem Gesicht spüren, als er im Augenwinkel den Speer kommen sah, der auf den Krieger zuflog. 

Es war nur ein Atemzug, den es dauerte und die eiserne Spitze bohrte sich in den Rücken des Mannes und glitt lautlos aus der Brust wieder heraus. Mit weit aufgerissenen Augen, taumelte der Getroffene auf ihr Versteck zu.

Alwins Herz schlug so fest gegen seine Brust, dass er glaubte das Bewusstsein zu verlieren.

Krachend fiel der Krieger vornüber ins Unterholz.

Mit zitternden Händen suchte Alwin nach dem Schwert an seinem Gürtel, doch niemand hatte sie entdeckt. Schützend hatte sich die Dämmerung um sie gelegt und die Angreifer rannten bereits zurück aufs Schlachtfeld. Ihr Jubel hallte in der Ferne. Auch wenn die Schlacht noch nicht beendet war, sie hatte sich gerade entschieden, wusste Alwin.

Erleichtert atmete er auf. Ein Fürst könne ihnen sicher noch nützlich sein, dachte er bei sich.

„Wird er überleben?“ flüsterte Sigurd hinter ihm.

„Gut möglich“, antwortete Alwin und schlich langsam auf den Fremden zu.

„Hilf mir“, forderte er Sigurd auf und wies ihn an, den Fremden in das dichte Buschwerk zu ziehen. Sie setzten ihn aufrecht hin und lehnten seinen Oberkörper gegen Sigurds Knie.

„Wir müssen den Speer brechen“, sagte Alwin und packte den Griff dicht hinter dem Einstich.

Sigurd brach das Holz mit einem kräftigen Ruck durch. Krachend gab es nach und der Geruch des Kiefernholzes zog an Alwin vorbei. Keuchend stöhnte der Fremde.

Vorsichtig lockerte Alwin den Lederpanzer. Die blasse Haut, die darunter zum Vorschein kam, schimmerte im Licht des aufgehenden Vollmondes. Alwin holte die Wolldecke aus seiner Tasche und hängte sie über die Äste des Busches, so dass sie sich schützend wie eine Höhle um sie schloss. Er holte Feuerstahl und Stein aus seinem Beutel und klemmte die kleine Fackel zwischen seine Beine. Schnell klopfte er das Metall gegen die scharfe Kante, blies kräftig und rasch fing die Jute der Fackel unter dem Funkenflug Feuer.

„Nimm sie und leuchte mir“, befahl er. 

Sigurd gehorchte und bückte sich über den Fremden. 

„Ein Langschwert wäre dir sicher nützlicher gewesen“, sprach er grinsend und seine weißen Zähne strahlten im Schein des Feuers.

„Mein Name ist Bojorix“, begann der Fremde leise zu sprechen und beugte sich vor. Dabei verzog sich sein Gesicht zu einer schmerzhaften Grimasse und seine Lippen pressten sich starr aufeinander. Er stöhnte und zischend presste er den Atem hervor. „Sie werden nicht viel finden“, lachte er spöttisch. 

Alwin breitete sein kleines Leinentuch aus und legte säuberlich die silberne Nadel, einen Seidenfaden, die Tinktur aus Weihrauch, sein Messer und den Beißkeil darauf. Der Fremde ließ ihn dabei nicht aus den Augen und beobachtete jeden seiner Handgriffe aufmerksam.

„Wer sind sie“, fragte Sigurd neugierig, obwohl sie die Antwort bereits wussten. Der Fremde lachte bitter auf.

„Kimbern, Teutonen und Ambronen. Völker aus dem Norden. Es sind tausende Männer und es werden immer mehr, die sich ihnen anschließen. Seit Jahren gibt es hier nichts außer Hunger und trockenen Boden. Die Tage unserer Siedlung waren schon vor dem Angriff gezählt“.

Alwin betrachte lange die Wunde. 

Die eiserne Spitze hatte die Brust unter dem Schlüsslbein sauber durchbohrt. Hautfetzen klafften um das Kiefernholz und Blut floss glänzend seine Brust hinunter. Sein Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, während er schleppend weitersprach.

„Wir hätten uns ihnen anschließen sollen. Aber mein Volk wollte das nicht“. 

Alwin griff nach zwei Leinentüchern, knüllte sie zusammen und übergab Sigurd das Bündel. 

„Nimm das und press es auf die Wunde, wenn es soweit ist“.

Er reichte Bojorix seine Trinkflasche, die er dankbar annahm und gierig leer trank. Alwin hielt ihm den Beißkeil vors Gesicht. 

„Ich werde das Holz langsam bewegen, um Deine Lunge nicht zu verletzen“, sprach Alwin mit ruhiger Stimme, während er ihm den Beißkeil tief in die Mundwinkel presste. Bojorix ließ ihn gewähren. 

Vorsichtig begann Alwin zu ziehen. 

Sofort drückte Bojorix im Schmerz sein Kinn auf die Brust und presste zischend seine Atemluft durch den Beißkeil. Schweiß tropfte von seiner Stirn, während das glatte Holz aus seinem Gewebe glitt. 

Schnell quoll das Blut nach und begann in dunklen Bächen zu fließen. Sigurd presste das Leinenbündel auf die Wunde, während Bojorix keuchend nach Luft schnappte. 

Alwin hielt sein Messer in die Fackel bis es zu glühen begann.

Fest hatte Sigurd Bojorix gepackt, der sich unter Schmerzen wand, während Alwin konzentriert die Wunde entlang schnitt, bis die Haut glatt genug war, um sie sauber zu nähen.

Er tränkte das Leinentuch mit der Weihrauchtinktur, band es fest um die Wunde und schloss den Lederpanzer.

„Dann werden wir uns ohne Dein Volk den Nordmännern anschließen müssen“, sprach Alwin und berachtete zufrieden sein Werk.

Bojorix nickte erschöpft, schloss die Augen und fiel in einen unruhigen Schlaf.

Ob Bojorix ihnen als Verhandlungspartner oder als Geisel diente, würde sich zeigen, nüztlich war er mit Sicherheit, dachte Alwin zuversichtlich. 

Sie ruhten nur wenige Stunden und brachen noch vor dem Morgengrauen zur Siedlung auf.

An den Toten vorbei liefen sie über das Schlachtfeld Richtung Osten. Der Boden unter ihren Füssen war vom Blut aufgeweicht und immer wieder blieb Alwin darin stecken. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn sie am Rand des Feldes geblieben wären, doch Bojorix schleppte sich beharrlich voran, während er sich auf Sigurd stützte.

Bereits von weitem sah Alwin die aufsteigenden Flammen und Horden von Plünderern, die durch die Siedlung stürmten. Alwin hatte wenig Lust dem grausamen Spiel beizuwohnen.

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